Emotionen zum Einatmen
Sommer riecht nach Sonnencreme und Meer, Weihnachten nach Zimt und Nelken. Gerüche wecken in unserem Kopf Erinnerungen an das Glück vergangener Tage. Das machen sich Mediziner zunutze.
Von Ilona Hörath
„Es gibt eine Überzeugungskraft des Duftes, die stärker ist als aller Worte Augenschein, Gefühl und Wille. Sie erfüllt uns vollkommen, es gibt kein Mittel gegen sie.“ Aus dem Erfolgsroman „Das Parfum“ von Patrick Süskind stammen diese Worte, und wer sich jetzt an sein jüngstes persönliches „Geruchserlebnis“ erinnert, weiß, dass der Schriftsteller vielen Lesern aus der Seele spricht. Wie kaum ein anderer Sinn steht der Geruchssinn für Gefühle und für Subjektivität. Mit einem bestimmten Duft verbindet jeder Mensch etwas anderes. Was der eine gut riechen kann und faszinierend findet, bewirkt beim anderen heftige Gegenreaktionen. Schon wenige Duftmoleküle, die durch die Luft schwirren, reichen aus, dass die eigene Stimmung von einem Moment auf den anderen umschlägt.
Der Geruchssinn ist der Sinn der Erinnerung und des Verlangens
„Der Geruchssinn ist der Sinn der Erinnerung und des Verlangens“, schrieb einst Jacques Rousseau. Ein Umstand, den gerade die Industrie zu nutzen weiß. Das Geschäft mit Düften ist ein lukrativer Milliardenmarkt, nicht nur allein mit Parfüms, sondern zum Beispiel auch in Supermärkten, in denen der Duft frisch gebackener Waren den Umsatz ankurbeln soll. Der Geruchsreiz – er steuert unser Verhalten und beeinflusst die Emotionen.
Man kann sich der Wirkung von Düften nicht entziehen
„Man kann sich der Wirkung von Düften nicht entziehen“, sagt Prof. Dr. Norbert Thürauf von der Psychiatrie des Universitätsklinikums Erlangen. Im Unterschied zur Industrie setzt der Oberarzt Gerüche ganz gezielt in der Therapie von psychisch Erkrankten ein, die durch das Syndrom der sogenannten Anhedonie gekennzeichnet sind. Darunter versteht man die Unfähigkeit, Freude zu empfinden. „Freudlosigkeit und gefühlsmäßige Einengung finden sich bei der Depression, aber auch bei Angststörungen, Schizophrenien und demenziellen Erkrankungen“, erläutert Thürauf. „Oder bei Menschen, die auf eine längere Drogenkarriere zurückblicken und derartig abgestumpft sind, dass sie nicht in der Lage sind, sich zu freuen oder zu weinen.“
Wie riecht eine alte Ledertasche von innen?
Thürauf leitet außerdem das Sensoriklabor. „Wir beschäftigen uns mit objektivierbaren sensorischen Störungen im Bereich der Psychiatrie“, erklärt der Geruchsforscher, „unsere Forschungsschwerpunkte liegen dabei auf messbaren Einbußen im Bereich des emotionalen Erlebens von Geruchsreizen bei verschiedenen psychischen Erkrankungen.“ Geruchsstörungen können auch ein Hinweis auf eine demenzielle Erkrankung wie Alzheimer oder auf die Parkinson-Krankheit sein oder einen Anhaltspunkt darüber liefern, wie fortgeschritten eine Psychose ist.
Im praktischen Alltag kommt sowohl in der Forschung als auch in der Therapie von Erkrankten unter anderem ein kleines Kästchen zum Einsatz. Darin stecken 16 Geruchsstifte, jeder einzelne ist akribisch mit einer Nummer beschriftet. Die „Sniffin’ Sticks“ sehen aus wie dicke Eddingstifte, den Unterschied aber kann man förmlich riechen, denn in den Stäbchen stecken künstliche und natürliche Aromastoffe. Norbert Thürauf zieht einen Stift heraus, nimmt die Kappe herunter und lässt den Besucher an der Stiftspitze schnuppern. Irgendwie riecht es nach Weihnachten, nach Tannenbaum, Glühwein und Plätzchenteller.
Aber das Weiterraten beantwortet nicht die Frage, um welchen Duft es sich konkret handelt. Thürauf hilft auf die Sprünge: „Man kennt den Duft, aber ihn zu benennen, fällt deutlich schwerer. Es ist die Gewürznelke.“ Schon hat er ein weiteres Duftstäbchen herausgezogen und erklärt: „Der Geruch ist keine primäre Emotion, aber er löst Emotionen aus.“
Dass der nächste Stift eher unangenehme Gefühle auslösen und dazu führen wird, die „Nase zu rümpfen“, weiß Thürauf natürlich von vornherein. Denn jetzt demonstriert er einen ganz speziellen Geruch: das Innenleben einer Ledertasche, die viele Jahre im Einsatz war.
Der Schlüssel zu positiven Gefühlen
„In der Psychiatrie messen wir mit diesem Test die Intensität und die Hedonik, also wie angenehm oder wie unangenehm ein Geruch wahrgenommen wird“, erläutert Thürauf. Das Diagnoseverfahren prüft aber auch die Schwelle ab wann Patienten Gerüche überhaupt wahrnehmen und wie genau sich die Düfte voneinander unterscheiden. „In der Therapie wird die emotionale Geruchserinnerung aktiviert“, sagt der Psychiater und Psychotherapeut.
Und es entstehen Bilder sowie Erinnerungen im Kopf. „So kann man über Gerüche zum Beispiel positive Kindheitserinnerung wecken und damit abrufen.“ Für die Therapie seien das Riechen und die Riechstifte „ein sehr guter Einstieg, um das Gefühlsleben der Patienten in eine angenehme Richtung zu lenken.“
„Wir wollen positive Emotionen auslösen und dafür sensibilisieren“ – gerade auch Patienten, die verzweifelt sind, ihre Umwelt meist negativ bewerten oder die, etwa in einer schweren depressiven Phase, nicht mehr fähig sind, Dinge als angenehm zu empfinden. „Je weniger angenehm Gerüche empfunden werden, desto ausgeprägter ist die Anhedonie.“
Patienten auf Geruchsspaziergang
In den Therapiesitzungen haben Thürauf und sein Team beobachtet, dass sich der Gesichtsausdruck der Patienten verändert, wenn sie an bestimmten Duftstäbchen riechen und darüber sprechen. „Manche beginnen plötzlich, glücklich zu strahlen.“ Und andere bringen von ihren Geruchsspaziergängen in die nächste Sitzung zum Beispiel eine Sonnencreme oder einen Holunderzweig mit und freuen sich darüber, deren Gerüche wiederentdeckt haben.
Für die Patienten sei es wichtig, darauf hingewiesen zu werden, dass man sich freuen kann, indem man zum Beispiel den Duft des Morgenkaffees über die Nase ganz bewusst wahrnimmt – und das Getränk nicht nur als Flüssigkeit betrachtet, die man eben zu sich nimmt. „Die Patienten werden wieder gefühlsmäßig ausgeglichener“, beschreibt Norbert Thürauf den Erfolg. „Unsere Therapie wird von den Patienten gut angenommen, da es wenige Therapieangebote gibt, die sich auf das positive Erleben beziehen.“
Neugierig auf mehr?
Dieser Text erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich zum Thema Sinne. Lesen Sie außerdem im friedrich Nr. 115, warum man sich vielleicht gar nicht so sehr auf seine Sinne verlassen sollte und wie Maschinen hören lernen.
Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.