Die Serie wird das Fernsehen überleben
Serien werden immer populärer – international, aber auch in Deutschland. Warum das Fernsehen trotzdem so gut wie tot ist, erklärt Medienexperte Dr. Sven Grampp vom Institut für Theater- und Medienwissenschaft der FAU.
Herr Dr. Grampp, war 2015 das Jahr der Serien?
Nein, sprechen wir besser von einer Dekade der Serie. Das Ganze begann vor über zehn Jahren mit dem amerikanischen Pay-TV-Sender HBO. Der berühmte Werbeslogan damals „It’s not TV, it’s HBO“ kündigte etwas ganz Neues an: Das, was inzwischen auch im Feuilleton unter dem Terminus „Quality TV“ läuft. Das Bezahlfernsehen traute sich, etwas ganz anderes zu machen oder vermarktete zumindest ihr Produkt geschickt als etwas ganz Neues. Ein Beispiel dafür ist die Serie „Die Sopranos“, die zuerst von 1999 bis 2007 auf HBO ausgestrahlt wurde. Mit einer komplexeren Narration sprach die Serie auch eine neue Zielgruppe an, die das Fernsehen bis dahin verächtlich gemieden hatte, nämlich das Bildungsbürgertum. Mit durchschlagendem und bis dato anhaltendem Erfolg.
Gute Serien sind also gar nichts Neues. Gilt das auch für Deutschland?
Lange stand die Frage im Raum: Warum hat Deutschland nicht so etwas wie „Die Sopranos“? Die Engländer haben es mit „Downtown Abbey“ oder „Sherlock“, die Skandinavier mit Serien wie „Die Brücke“ oder „Borgen“. Da wurde verzweifelt nach einem Äquivalent gesucht. Der „Tatort“ vielleicht? Jetzt, mit Serien wie „Deutschland 83“, ist Deutschland auch mit dabei. Die Serie bekam tolle Rezensionen, aber die Einschaltquoten waren nicht da. Das hat aber nichts zu sagen. Ich glaube ohnehin, dass das Fernsehen ein Auslaufmodell ist. Bald wird niemand mehr einschalten – wie meine Studenten. Die schauen alles online. Die Serie hat sich längst vom Fernsehen emanzipiert. Sie findet dort auch noch statt, hat aber auch ganz andere Distributionsplattformen gefunden: Über das Internet und DVDs funktioniert sie ganz stark unabhängig vom Fernsehen, vor allem in den USA. Die Einschaltquoten sind nicht mehr das Maß aller Dinge für Fernsehserien.
Wie wirkt sich Video-on-Demand auf das Fernsehen aus?
Ich glaube, das Programmmedium Fernsehen ist einfach nichts mehr für die jüngeren Generationen. Zeitlich ist es zu stark vorstrukturiert. Niemand möchte mehr für seine Lieblingssendung jede Woche um 20.15 Uhr einschalten. Das liegt an den neuen technischen Möglichkeiten: Serien sind heute immer verfügbar im Netz oder extrem billig auf DVD zu haben. Die mediale Archivstruktur ersetzt zusehends die zeitbasierte Programmstruktur des Fernsehens.
Auch das sogenannte „Binge-Watching“ ist ein Phänomen, das mit dieser Verschiebung medialer Nutzungspraktiken zu tun hat. Darunter versteht man das Schauen von mehreren Folgen einer Serie am Stück. Video-on-Demand-Anbieter spielen häufig eine Staffel am Stück ab, ohne zwischen den einzelnen Episoden haltzumachen. In ihrer Verzweiflung imitieren die Fernsehsender diese Praxis mit ihren Programmangeboten. RTL II hat von der Serie „The Walking Dead“ auch gleich mehrere Episoden hintereinander gezeigt.
Und die ZDF-Serie „Blochin“ ist eine der ersten, bei denen das öffentlich-rechtliche Fernsehen dem Privatfernsehen folgte, die einzelnen Episoden nicht im üblichen Wochen-Rhythmus auszustrahlen, sondern eine komplette Staffel innerhalb weniger Tage zu zeigen. Außerdem waren die Folgen zeitgleich in der Mediathek des ZDF online. Wahrscheinlich bleibt der ZDF-Intendant deshalb bisher ganz entspannt, weil auch die Sender verstärkt Medienprodukte für verschiedene Plattformen und nicht nur fürs Fernsehen herstellen.
Sind die neuen deutschen Serien alle von amerikanischen Vorbildern abgekupfert?
Der europäische Film der 1960er Jahre hat es radikal anders gemacht als der Hollywoodfilm. Das sehe ich beim Fernsehen nicht. Die neuen Serien sind stark affirmativ. Schon bei „Pastewka“ 2005 auf Sat. 1 ist das Vorbild sehr deutlich die amerikanische Serie „Curb Your Enthusiasm“. Genauso „Stromberg“, der „The Office“ aus Großbritannien imitiert. Indes wird in diesen Serien – und man könnte weitere deutsche Produktionen nennen – mitunter recht gewitzt die Vorlagen lokalspezifisch adaptiert. Die deutsche Fernsehserienlandschaft beheimatet als vorrangig geschickte Nachahmungstäter, insbesondere im Comedy-Bereich.
Die neuen Serien werden indes häufig dahin gehend kritisiert, dass sie auf stilistischer Ebene nicht konsequent genug adaptieren. Das hat wohl unter anderem mit der Programmstruktur sowie dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu tun, nämlich möglichst viele erreichen zu wollen. Die Pay-TV- oder Video-on-Demand-Anbieter können viel radikaler sein, es kann geflucht oder Sex und Nacktheit gezeigt werden, weil es zur Zielgruppe passt. Aber das Öffentlich-Rechtliche will in Disney-Manier alle abgreifen: die Älteren, die Familien, die Jungen. Da kann man ja nicht radikal sein. Formexperimente gibt es in Deutschland trotzdem, nur eben in Nischenplätzen wie Arte oder ZDFneo.
Ist das Format Serie auch medienübergreifend populär?
Es wird mehr und mehr serialisiert, sei es im Fernsehen, bei Video-on-Demand, Webserien, Comicserien oder sogar Kinofilmen – oder transmedial ausgeweitet. „Star Wars“ ist da das beste Beispiel: Es gibt neben den Filmen auch eine Zeichentrickserie, Spielzeugfiguren und Fanfiction-Bücher, die die Geschichten erweitern. Diese Hyperkonnektivität ist vielleicht nicht gänzlich neu und ist wohl ein Merkmal von Populärkultur ganz generell; sie hat aber in den letzten Jahren stark zugenommen. Dahinter steckt wohl vor allem ökonomisches Kalkül: Bedeutet Hyperkonnektivität doch, es gibt so viele Anschlussmöglichkeiten für so viele unterschiedliche potenzielle Kunden wie möglich. Ein Beispiel ist die Fernsehserie „The Walking Dead“. Sie hat mit einem Comic angefangen, dann gab es die Fernsehserie, die sich inhaltlich vom Comic gelöst hat, dann eine Computerspielreihe. So wird für den Serienfan das Game vielleicht auch interessant.
Sind Serien die Zukunft des Fernsehens? Oder gab es sie schon immer?
Fernsehen an sich ist bereits ein serielles Format. Die Tagesschau kommt ja auch täglich. Serien haben das Fernsehen schon immer begleitet. Da ist es eher die Frage, ob sich die Erzählform geändert hat. Lange Zeit gab es zumindest im deutschen Fernsehen nur die Mini-Reihe, drei bis vier Folgen. Und noch keine Soaps. Gerade die Verschränkung von episodischem Erzählen und der Fortsetzung eines Handlungsbogens über einzelne Episoden, ja ganze Staffeln hinweg ist im Grunde genommen erst in letzter Zeit im Zuge des sogenannten Quality-TV Standard geworden. Selbst im „Tatort“ kann man solch eine Entwicklung verfolgen. Wie auch immer die Entwicklung der Serie weitergehen wird, sie wird sich immer mehr vom Fernsehen emanzipieren und dieses überleben.
Eine Einschätzung für die Zukunft: Wird sich nächstes Jahr im deutschen TV-Programm etwas ändern? Oder in fünf Jahren?
Es wird noch mehr Adaptionen amerikanischer Serien geben, die aber noch intelligenter versuchen werden, lokalspezifisch besonders zu sein. Ich würde mir indes wünschen – vor allem von den öffentlich-rechtlichen Sendern – dass sie etwas anders machen. Einen Art Novelle Vague der deutschen Fernsehserie in der Art, wie es der Neuen Deutsche Films Ende der 1960er Jahre war. Aber da spricht wohl der naive Romantiker in mir.
Welche Serien interessieren Sie wissenschaftlich besonders? Und welche schauen Sie vor allem gern zu Hause auf dem Sofa?
Die beste Serie der Welt ist eindeutig „Buffy the Vampire Slayer“. Keine Serie, die ich kenne, hat es besser geschafft episodisches Erzählen und Fortsetzungserzählen zu verbinden. Historisch markiert sie im Übrigen genau den Übergang zum neuen Quality TV – und zwar indem die Serie selbst genau den Wechsel vom einfachen, schematischen Erzählen zum komplex verzweigten Erzählen im Zeitraum ihrer sieben Staffel selbst durchläuft. Generell schaue ich mir im Moment Serien an, die entgegen dem Trend zum hochgradig komplexen, auf Fortsetzung drängenden Erzählens, wieder auf episodisches Erzählen zurückgreifen, „The Good Wife“ etwa.
Die Frage, die mich dabei interessiert, ist, welche kreativen Wege diese Serien finden, um dieser selbst auferlegten Limitation auf eine vermeintlich altbackene Erzählweise, neues Leben einzuhauchen. Zudem beschäftige ich mich immer wieder gern mit Serien, die vor der vermeintlichen Zäsur der neuen Qualitätsserien produziert wurden, beispielsweise die Kriminal-Fernsehserie „Kottan ermittelt“ , die ab 1976 im ORF lief und ab Anfang der 1980er dann auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Ich kenne kaum eine Serie, die medien- und selbstreflexiver operiert als diese. Quality TV before Quality TV, wenn man so will. An diese serielle Erzähltradition sollten die deutschen Serien unbedingt wieder anknüpfen!
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Dieser Text erschien auch in unserem Magazin alexander, das Sie hier als PDF herunterladen können.
Weitere Themen der Ausgabe Nr. 101: ein Interview mit Direktorin Konstanze Söllner darüber, wie sich die Universitätsbibliothek in Zeiten des Internets wandelt sowie ein Artikel darüber, wie Zahnmedizin-Studierende an der FAU lernen, mit Notfällen in der Zahnarztpraxis richtig umzugehen.
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