Warum war man in Nepal auf das Erdbeben vom 25. April 2015 schlecht vorbereitet?
Ein dramatisches Zusammenspiel von Tektonik, Armut, schlechter Infrastruktur und Politikversagen
Bei dem Erdbeben vom 25. April 2015 handelte es sich um ein – sowohl von Experten als auch von den Einwohnern selbst – lange erwartetes Extremereignis, auf welches dennoch niemand adäquat vorbereitet gewesen ist. Auch in Zukunft muss geologisch bedingt mit weiteren Erdbeben in Nepal gerechnet werden (nach dem Erdbeben am 25. April 2015 wurden über 100 teilweise sehr schwere Nachbeben aufgezeichnet!). Da sich diese nicht vorhersagen lassen, sind die Etablierung effizienter Maßnahmen zur Prävention von Schäden sowie Vorsorgemaßnahmen – hier insbesondere die Ausarbeitung von Notfallplänen und die Akquise von Einsatzmitteln – von entscheidender Bedeutung. Ebenso wichtig ist es, die Präventionsmaßnahmen und die Katastrophenhilfe an eine langfristig nachhaltige und am Wohlergehen der Bevölkerung ausgerichtete gesellschaftliche Entwicklung zu koppeln. Unsere Arbeiten zu Risiken und Katastrophen zeigen, dass dies nicht nur in Nepal, sondern weltweit noch zu selten passiert. Im World Disasters Report 2014 der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften haben wir mit Vehemenz darauf hingewiesen, dass die Erfahrungen und die Alltagswelt der Betroffenen vor Ort bisher noch viel zu wenig für die Hilfe bei Katastrophen nutzbar gemacht werden und anders herum Katastrophen dann besonders gravierend sind, wenn Menschen ohnehin schon in Verwundbarkeit, politischer Entmündigung und ohne eigene Handlungsspielräume leben müssen.
Zur Risikoträchtigkeit der nepalesischen Gesellschaft
Im Allgemeinen beeinflussen sozio-kulturelle und politisch-ökonomische Faktoren die Risikoträchtigkeit/Vulnerabilität und die Bewältigungskapazität einer Bevölkerung gegenüber Naturkatastrophen. In Nepal müssen hier die allgemein schlechten Lebensverhältnisse im Land (Nepal gehört noch immer zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Staaten der Erde, über 50% der Bevölkerung leben unterhalb der internationalen Armutsgrenze von 1,25 US $ pro Tag), ein anhaltend hohes Bevölkerungswachstum und Migration aus Not heraus (unkontrollierte Land-Stadt-Migration in das Kathmandu-Becken, ca. 3 Mio. männliche Arbeitsmigranten im Ausland) sowie die soziale Exklusion einzelner Bevölkerungsgruppen genannt werden. Dies alles führt zu einer niedrigen Bewältigungskapazität und macht die Menschen Nepals für die negativen Folgen von Naturereignissen besonders anfällig. Armut und soziale Benachteiligung müssen also als großes Hemmnis für die Entwicklung von Fähigkeiten zur Anpassung an Gefahren und zur Bewältigung von Schäden gesehen werden. Darüber hinaus durchläuft Nepal nach dem zehnjährigen bewaffneten Konflikt zwischen maoistischen Rebellen und der Regierung einen komplexen und tiefgreifenden Demokratisierungsprozess, der durch eine extreme politische Instabilität, mangelnde Leistungsfähigkeit politischer Institutionen, Korruption und Machtmissbrauch gekennzeichnet ist.
Zum Zusammenhang von Politik und Katastrophe
Nepal ist ein multiethnischer, multilingualer und multikultureller Staat mit über 120 ethnischen Gruppen und gesprochenen Sprachen. Diese kulturelle Vielfalt ist gleichzeitig Ausdruck einer hochgradig fragmentierten Gesellschaft, die durch massive sozio-ökonomische Ungleichheit gekennzeichnet ist. Die Exklusionspolitiken hinduistischer Eliten, die im 11.-13. Jahrhundert zugewandert sind und die zahlreichen Stammesgebiete altnepalesischer Volksgruppen zu einem politischen und administrativen Einheitsstaat vereinigten, haben sich jahrhundertelang auf alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und räumlichen Sphären erstreckt. Bis heute sind Exklusion, Marginalisierung und Unterordnung ethnischer Akteure die Folge, historisch ausgegrenzte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind von der Teilhabe an Entwicklungsprozessen systematisch ausgeschlossen. Dies bildet die Basis der gegenwärtigen Unrechtsdiskurse, die 1996 den Ausbruch des 10-jährigen Volkskrieges maßgeblich begünstigt haben. Das Land befindet sich in einem tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozess. Der nepalesische Staat befindet sich jedoch in einer Art Machtvakuum, da bislang weder eine Verfassung noch Einigkeit über die föderale Ausgestaltung besteht. Seit 2002 gibt es keine gewählten Lokalverwaltungen mehr. Dies alles hat das Vertrauen der Bevölkerung in die junge Demokratie des Landes enorm geschwächt. Die Regierung stand aufgrund ihrer Hilflosigkeit und ihres unkoordinierten Handelns bereits nach dem ersten Erdbeben am 25. April massiv in der Kritik. Zudem besteht die berechtigte Gefahr, dass sich im Zuge des Wiederaufbaus bestehende Ungerechtigkeiten verfestigen oder gar verstärken können, z.B. indem die Maßnahmen nicht allen Betroffenen gleichermaßen zugutekommen. Wie bereits jetzt den Medien zu entnehmen ist, wird dem Wiederaufbau der touristischen Infrastruktur, zu der man auch das UNESCO Weltkulturerbe im Kathmandu-Becken zählen muss, Priorität eingeräumt – ein Wirtschaftssektor, an dem nur wenige Personengruppen profitieren. Der Wiederaufbau Nepals birgt also ein gewisses Konfliktpotenzial und könnte zu einer Gefahr für den Demokratisierungsprozess des Landes werden.
Kulturen des Eingreifens, Kultur als Schlüssel zur Katastrophenvorbeugung
Letztlich muss sich also die Kultur der Katastrophenhilfe ändern: der kurzfristigen Nothilfe muss ein nachhaltiger Prozess der Unterstützung folgen, der nicht nur den Wiederaufbau „offensichtlicher“ wirtschaftlicher Sektoren wie der Tourismusbranche zum Ziel hat, sondern eine politische und ökonomische Teilhabe der Gesamtbevölkerung ins Auge fasst. Dabei kann man durchaus auf die vor Ort vorhandene „Alltagskompetenz“ der Betroffenen bauen: In Regionen, in denen Menschen seit Generationen mit Gefahren und Risiken leben müssen, haben sie Praktiken entwickelt, damit umzugehen. In Erdbebengebieten sind dies z.B. traditionelle Bauweisen (Hauskonstruktionen, die Erschütterungen gut abpuffern können) oder auch Landnutzungssysteme, dies es ermöglichen, besonders gefährdete Gebiete zu meiden. Diese „Kulturen des Alltags“ müssen gestärkt und in eine langfristige Katastrophenvorbeugung eingebettet werden. Dies erfordert ein sensibles und würdevolles Umgehen mit Überzeugungen und Praktiken vor Ort, viel Zeit und den Willen, sozialer Exklusion und Diskriminierung den Kampf anzusagen.
Nach dem Erdbeben ist in Nepal die Gefahr noch nicht gebannt
Neben den Primärschäden können Erdbeben sekundäre Naturereignisse wie Erdrutsche, Felsstürze, Lawinen oder Gletscherseeausbrüche auslösen. Derzeit identifiziert und lokalisiert ein internationales Expertenteam, unter anderem unter Beteiligung der NASA und dem British Geological Survey, mittels hochauflösender Fernerkundungsdaten derartige Sekundärereignisse. Erdrutschmassen können Täler blockieren und Flüsse dammartig zu gefährlichen Seen aufstauen. Diese können Siedlungen flussaufwärts überschwemmen, flussabwärts kann es bei einem Bruch oder Überlaufen des „Dammes“ zu schweren Überschwemmungen kommen. Auch die für Hilfslieferungen erforderliche Infrastruktur wird weiter beschädigt oder zerstört, Menschen in den entlegenen Tälern des hohen Himalayas wären weiterhin von der dringend benötigten Hilfe abgeschnitten. Das Expertenteam beobachtet derzeit sechs größere Seen, die in Folge von Erdrutschen aufgestaut wurden. Darüber hinaus werden mehrere Gletscherseen, die sich im Zuge des Rückschmelzen eines Gletschers hinter der Endmoräne bilden können, beobachtet; durch das Erdbeben können die Moränendämme geschwächt werden, wodurch die Gefahr für einen Ausbruch der Gletscherseen (GLOF – Glacial Lake Outburst Flood) steigt. Darüber hinaus setzt zudem der Monsun in Nepal ein – eine Zeit, in der es alljährlich zu unzähligen Erdrutschen und schweren Überschwemmungen kommt. Dies wird die Gefährdungslage verschärfen und zu weiteren Opfern und Schäden führen.
Kathmandu: „Hotspot“ des Risikos
Aus dem Kathmandu-Becken sind zahlreiche schwere Erdbeben mittels historischer Aufzeichnungen belegt. Das bis 2015 zerstörerischste Erdbeben ereignete sich am 15. Januar 1934, als das Kathmandu-Becken von einem dreiminütigen Erdbeben der Stärke 8,4 erschüttert wurde. Ein vergleichbares Ereignis hätte heute wohl noch weitaus katastrophalere Folgen als das Erdbeben vom 25. April 2015: das Kathmandu-Becken wird nun von schätzungsweise 2,5 Mio. Menschen bevölkert, die Gebäudestruktur wurde – weitgehend unkontrolliert – massiv verdichtet, Bauvorschriften und vor allem Hinweise auf eine erdbebensichere Bauweise werden missachtet. Feuerwehr und Zivilschutz haben weder die Ausrüstung noch das Personal, um bei einer derartigen Katastrophe die erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu können (in ländlichen Regionen sind derlei Institutionen meist überhaupt nicht etabliert). Unter Erdbebenexperten gilt Kathmandu als einer der gefährlichsten Orte der Welt. Simulationen bezüglich der potenziellen Folgen eines schweren Erdbebens kalkulieren mit theoretisch mehr als 100.000 Toten allein im Kathmandu-Becken. Besonders prekär ist dabei die geologische Beschaffenheit des Beckens, das von zum Teil 500 m mächtigen, unverfestigten Sedimenten aus Sand und Schlamm erfüllt ist. Diese können nicht nur die Erschütterungen im Falle eines Erdbebens verstärken, sondern es kann auch zu einer sogenannten Bodenverflüssigung kommen, die Gebäude und sämtliche Infrastruktur versinken lässt. Dies könnte im Extremfall dazu führen, dass der einzige internationale Flughafen des Landes, der sich bereits diesmal als alles entscheidendes Nadelöhr entpuppt hat, zerstört und nicht mehr für die Katastrophenhilfe genutzt werden könnte.
Was muss man künftig besser machen?
Das Naturgefahrenmanagement beschränkt sich aufgrund fehlender Aktionspläne bislang auf provisorische Rettungs- und Hilfsmaßnahmen – wie auch im Falle des jüngsten Erdbebens. Lokale, vielfach marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind dabei meist auf ihre sozialen Netzwerke in Form von Nachbarschafts- und Selbsthilfe angewiesen. Technische Schutzmaßnahmen beschränken sich auf ökonomisch bedeutsame Infrastruktur. Vorbeugung und Bereitschaftserhöhung stellen hingegen völlig neue Konzepte dar, die nur zögerlich in Form von lokal begrenzten Projekten implementiert werden – hauptsächlich im dicht besiedelten Kathmandu-Becken. Zwar existieren in Nepal diverse Gesetze, Verordnungen und Pläne zum Naturgefahrenmanagement, eine konkrete und vor allem koordinierte Umsetzung findet jedoch – wenn überhaupt – nur mangelhaft statt. Ohne eine Beseitigung dieser Missstände und die oben beschriebene langfristige Einbettung von Katastrophenhilfe in eine nachhaltige sozialgerechte Entwicklungszusammenarbeit ist die nächste humanitäre Katastrophe nur eine Frage der Zeit.
Dr. Alexandra Titz, Institut für Geographie, forscht im Rahmen der Geographischen Entwicklungsforschung zu Mensch-Umweltbeziehungen und sozialer Verwundbarkeit u.a. in Nepal.
Prof. Dr. Fred Krüger, Institut für Geographie, arbeitet zu den Wechselbeziehungen zwischen Kultur, Risiko und dem Umgang mit Katastrophen.
Weitere Informationen:
Dr. Alexandra Titz
Tel.: 09131/85-22011
alexandra.titz@fau.de
Prof. Dr. Fred Krüger
Tel.: 09131/85-22641
fred.krueger@fau.de