Zwischen Abschirmen und Leben retten: EU-Verordnung zur Überwachung der Seeaußengrenzen

Bei Bootsunglücken an den Küsten Europas kommen jedes Jahr tausende Menschen ums Leben. Sie flüchten vor Krieg, Armut und Verfolgung über das Mittelmeer nach Europa. Insbesondere humanitäre  Katastrophen, wie der Bürgerkrieg in Syrien, verschärfen diese Entwicklungen. Die EU muss auf die Flüchtlingsbewegungen reagieren und Wege finden, Tragödien wie das Bootsunglück vor Lampedusa in Zukunft zu verhindern. FAU-Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Petra Bendel über die EU-Verordnung zur Überwachung der Seeaußengrenzen.

Am Mittwoch, den 16.4., verabschiedet das Europäische Parlament im Plenum voraussichtlich eine neue Verordnung über die Überwachung der gemeinsamen Seeaußengrenzen im Rahmen von Frontex-Operationen. Ein Hintergrund dieser Neuauflage ist das Entsetzen über die vielen Todesfälle von Menschen, die auf der Suche nach Schutz in der Europäischen Union in den vergangenen Jahren auf überfüllten oder seeuntüchtigen Booten ihr Leben verloren haben: Das Projekt „The Migrants File“ dokumentiert, dass allein seit dem Jahr 2000 bereits 23.000 Menschen auf ihrem Weg nach Europa gestorben sind.

Ziel der neuen Verordnung ist es nun einerseits nach wie vor, die Außengrenzen gegen irreguläre Migration und grenzüberschreitende Kriminalität abzuschirmen, andererseits aber auch Leben zu schützen und zu bewahren. Die Außengrenzenkontrolle und -überwachung obliegt den EU-Mitgliedstaaten. Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX) hat die Mitgliedstaaten bei der Grenzkontrolle, aber nun auch bei der Seenotrettung zu unterstützen. Daher müssen auch die Kompetenzen zwischen den einzelnen Einheiten klar umrissen werden. Denn im vergangenen Jahr ist es vorgekommen, dass Menschen ertrunken sind, weil sich die Mitgliedstaaten nicht darauf verständigen konnten, wer für ihre Rettung zuständig war – ein Fall zwischen Italien und Malta, bei dem über 260 Menschen starben.

Die neue Verordnung legt folgende positive Neuerungen fest: Erstens verpflichtet sie die Grenzschutzagentur darauf, jedem in Seenot geratenen Boot oder jedweder Person Unterstützung zukommen zu lassen. Dabei ist noch einmal klar geregelt worden, wann ein Fall von Seenotrettung vorliegt und wie die Mitgliedstaaten dies untereinander zu koordinieren haben.

Zweitens wird FRONTEX das Ausschiffen von geretteten oder aufgegriffenen Menschen in solche Länder verboten, in denen sie ernsthaften Schaden erleiden könnten. Damit stärkt der Gesetzentwurf das wichtige Prinzip der „Nicht-Zurückweisung“. Denn niemand darf nach Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention „auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten“ zurückgewiesen werden, „in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“.

Drittens regelt die Verordnung, welche Rechte die Betroffenen haben, wenn sie in einen Staat verbracht werden: Vor dem Ausschiffen müssen die Einheiten sicherstellen, dass der Drittstaat die Menschenrechte respektiert. Sie müssen gewährleisten, dass die Betroffenen identifiziert und ihre persönlichen Umstände geklärt werden, dass sie über ihren Verbleib informiert werden, und zwar so, dass sie dies auch verstehen. Außerdem müssen die beteiligten Einheiten den betroffenen Menschen die Möglichkeit geben, etwaige Einwände gegen ein Ausschiffen am vorgeschlagenen Ort Einspruch einzulegen, wenn sie dies für eine Verletzung des Flüchtlingsprinzips des non-refoulement halten. Damit hat der Gesetzentwurf einem wichtigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2012 Rechnung getragen: Im Fall Hirsi Jamaa und andere gegen Italien  hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Grundsatzurteil großen Wert darauf gelegt, dass die damaligen Kläger als Flüchtlinge von Italien nach Libyen verbracht worden waren ohne Zugang zu Information, Dolmetschern oder juristischen Beistand – aus der Sicht des EGMR ein Verstoß gegen das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf.

Bei dem Entwurf, der dem Parlament vorliegt, handelt es sich naturgemäß um einen Kompromissvorschlag, der zwischen Kommission, Rat und Parlament ausgehandelt wurde. Der Kompromiss schließt nun allein das Handeln innerhalb von FRONTEX-koordinierten Operationen ein und nicht auf jedwedes Handeln von Grenzschutzbehörden auf See: Aufgrund ihrer unterschiedlichen Interpretationen des Seerechts nämlich konnten sich die EU-Staaten nicht auf gemeinsame Zuständigkeiten einigen.

Außerdem erlaubt ihnen der Kompromissvorschlag, den Kurs eines in ihren Hoheitsgewässern aufgegriffenen Bootes abzuändern und zu einem anderen Ziel verbringen, wenn ein solches Flüchtlingsboot innerhalb der 12-Meilen-Zone eines Landes aufgegriffen wird. Vor allem die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl hat kritisiert, dass FRONTEX-Einsätze, die in der Ägäis stattfinden, daher ganz überwiegend weiterhin sogenannte „Push-Backs“ in Richtung Türkei vornehmen dürfen.

Boote oder Personen an Bord eines Bootes, die auf hoher See, d.h. in Gewässern außerhalb eines nationalstaatlichen Territoriums aufgebracht werden, dürfen zwar nicht (wie im ursprünglichen Entwurf vorgesehen) zur Umkehr gezwungen werden – wohl aber ist es möglich, diese in einen Drittstaat zu verbringen bzw. zu „geleiten“. Diese Regelungen können das Prinzip der Nicht-Zurückweisung von Personen untergraben: Werden Personen zurück“geleitet“ in einen Drittstaat, wie lässt sich dann, so Pro Asyl und andere Nichtregierungsorganisationen, herausfinden, ob sich darunter nicht Schutzsuchende befinden? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat geurteilt, dass jeder Mensch, der Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen sucht, das Recht auf Zugang zu einem Verfahren hat, bei dem sein Antrag individuell geprüft wird. Das gilt auch auf hoher See, wenn ein Staat auf seinem Schiff volles und exklusives Recht über die Aufnahme oder Zurückweisung eines Flüchtlings ausübt.

Schließlich schreibt die neue Verordnung zwar vor, dass bei allen FRONTEX-geleiteten Operationen medizinisches Personal, Dolmetscher, Juristen und „anderweitig relevante Experten“ erreichbar sein müssen. Dies gilt allerdings nur, wenn dies „für notwendig erachtet wird“. Wer aber entscheidet über diese Notwendigkeit? Besonders beim Ausschiffen in Drittstaaten fehlen im Entwurf Garantien für Dolmetscher und juristischen Beistand, und vor allem auch Verfahrensgarantien mit aufschiebender Wirkung.

Die Befürchtung, dass nun die Schlepper diese Auflagen zur Seenotrettung ausnutzen könnten, klingt geradezu zynisch, wurde aber in den vergangenen Tagen gerade im Zusammenhang mit den italienischen Seenotrettungsaktivitäten „Mare Nostrum“ wiederholt angesprochen. Aber: Der „Mare-Nostrum“-Kommandant und Marine-Chef De Giorgi argumentiert, die Flüchtlingszahlen seien bereits lange vor Beginn der Operation dramatisch gestiegen, und ihre Ursachen seien politisch und sozial. In der Tat: Die allermeisten Flüchtlinge, die auf diesem Weg kommen, sind derzeit syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Sie müssten endlich andere, legale Wege finden, um in Europa aufgenommen zu werden und Schutz zu erhalten. Und schließlich können wir nicht Völkerrecht brechen, nur weil es Personen gibt, die dieses Recht ausnutzen könnten. Vielmehr müssen wir Mittel und Wege finden, um Menschenhändlern das Handwerk zu legen. Dies sieht übrigens auch die Seeaußengrenzenüberwachungsverordnung vor.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Petra Bendel
Zentralinstitut für Regionenforschung
petra.bendel@fau.de