Wie viel Vertrauensverlust kann eine Gesellschaft verkraften?
Auch wenn der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff gestern vom Vorwurf der Korruption freigesprochen wurde: Skandalberichte über das Fehlverhalten von Politikern, die Steueraffären von öffentlichen Persönlichkeiten wie Uli Hoeneß und Alice Schwarzer, die systematischen Manipulationen beim ADAC oder jüngst der „Fall Edathy“ – wie viele Enttäuschungen verkraftet eine Gesellschaft, bevor sie das Vertrauen in Institutionen und Vorbilder verliert? FAU-Soziologe Dr. Sebastian Büttner erklärt, wieso Skandalberichte auch etwas Gutes haben können und warum Vertrauen nicht verloren geht, sondern sich nur wandelt.
Eines gleich vorweg: In den Sozialwissenschaften gibt es keinen Vertrauensklimaindex, der – ähnlich wie etwa der Lackmus-Test in der Chemie oder der Konsumklima-Index in der Marktforschung – klare Tendenzen anzeigen und kritische Schwellenwerte angibt. Es kann ihn auch nicht geben, weil soziale Zusammenhänge anders als viele naturwissenschaftliche Phänomene in der Regel keinen klaren Gesetzmäßigkeiten unterliegen und immer mit Unschärfe behaftet sind. Dies gilt im Übrigen eigentlich auch für Prognosen der Marktforschung, auch wenn durch Charts und Indizes gerne ein anderer Eindruck vermittelt wird.
Es lässt sich aus soziologischer Sicht jedoch durchaus sagen, dass Skandalberichte über das Fehlverhalten von Politikern, herausragenden öffentlichen Persönlichkeiten und von vermeintlichen „Institutionen“ wie dem ADAC – insbesondere die Häufung solcher Fälle – durchaus zu einem erheblichen Vertrauensverlust führen können. Die Frage jedoch ist, ob das notwendigerweise schlecht sein muss? Ist es nicht vielmehr positiv, wenn die Bevölkerung durch mediale Aufklärung und ausführliche Berichterstattung über das Fehlverhalten von Politikern und anderen Persönlichkeiten informiert wird und auf diese Weise zu einem abgeklärterem Verhältnis gegenüber vermeintlichen Vorbildern und Institutionen gelangt? Zum Beispiel, weil eine Grundskepsis gegenüber vermeintlichen Vorbildern und Autoritäten gefördert wird, die einer Bevölkerung in demokratisch verfassten Gesellschaften durchaus gut zu Gesicht steht. Denn sie ermöglicht Mündigkeit und bedeutet eine Abkehr von schlichtem Untertanentum und dumpfer Obrigkeitsgläubigkeit.
Zugleich muss man hier aus meiner Sicht jedoch auch Folgendes berücksichtigen: Wir sind in der modernen Mediendemokratie alle auch ein Stück weit an wiederkehrende Skandalberichte und Negativschlagzeilen gewöhnt. Damit stellt sich die Frage: Ficht uns diese wiederkehrende Skandalberichterstattung überhaupt noch an? Oder sind wir nicht alle sehr häufig einfach Zuschauer und Konsumenten der massenmedialen Erregungsmaschinerie? Wir machen doch immer wieder die Erfahrung, dass ein großer Skandal den nächsten jagt. Es gibt kaum ein Thema, das sich länger als eine Woche in den Medien hält, bevor der nächste große Skandal auftaucht. Dies sind die Mechanismen der öffentlichen Aufmerksamkeitserzeugung in modernen Mediendemokratien. Und damit sind wir alle auch ein Stück weit an wiederkehrende Skandalberichte, Negativschlagzeilen, Dramatisierung und Zuspitzung gewöhnt. Problematisch wird es jedoch – und darin liegt die Brisanz der aktuellen Fälle – wenn die Skandale nur noch apathisch zur Kenntnis genommen werden und der Eindruck entsteht, „alle Politiker“ oder „die da oben“ seien alle moralisch verfehlt und würden „ohnehin nur in ihre eigene Tasche wirtschaften“.
Apathie, generelles Misstrauen gegenüber Institutionen, Funktionsträgern und öffentlichen Meinungsführern und die symbolische Grenzziehung zwischen „uns“ und „denen da oben“ sind ziemlich sichere Anzeichen einer gesellschaftlichen Vertrauenskrise, die weit über die gesunde Skepsis hinausreicht. Anzeichen dieser Tendenz und Reaktionsweisen lassen sich in Teilen der Bevölkerung in Deutschland durchaus ausmachen. Es ist jedoch fraglich, ob dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Gros der öffentlichen Meinung ausmacht.
Doch welche Folgen kann ein solcher Vertrauensverlust für eine Gesellschaft haben? Vertrauen ist ein Begriff, der in Sonntagsreden gerne und häufig beschworen wird und der nicht zuletzt in den gegenwärtigen Diskursen um die Fehlentwicklung von Märkten und die gesellschaftlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrisen eine neue Popularität erfahren hat. Fakt ist: Vertrauen ist eine Grundsubstanz des sozialen Miteinanders und eine Grundlage individueller Handlungsfähigkeit.
Ohne Vertrauen darauf, dass die Welt morgen in etwa so ist, wie ich sie heute vorfinde, ohne Vertrauen darauf, dass ich mich relativ gefahrlos aus dem Haus begeben kann, ohne Vertrauen darauf, dass Autos, Straßenbahnen und Flugzeuge in der Regel problemlos funktionieren und ohne ein gewisses Maß an Grundvertrauen in meine Mitmenschen und in zentrale öffentliche Institutionen und Einrichtungen, wären wir ziemlich unfähig zu handeln. Vertrauen ist also ein wichtiges Bindemittel zwischen gegenwärtigem Erleben und zukünftigen Handlungschancen, dass die Erstellung von verlässlichen Handlungsentwürfen überhaupt erst ermöglicht und Handlungsperspektiven und (im günstigsten Fall) auch Handlungsspielräume eröffnet. Ohne Vertrauen könnten uns nicht so selbstverständlich, wie wir es gewohnt sind, in unserer alltäglichen Lebenswelt bewegen.
In der Soziologie gibt es jedoch nicht nur einen Begriff von Vertrauen: Wir unterscheiden zwischen „personalem“ und „generalisiertem Vertrauen“, auch „Institutionenvertrauen“ genannt. Häufig lässt sich also nicht generell ein Vertrauensverlust beobachten, sondern wir sehen Übergänge von einem Typus von Vertrauen in einen anderen. Oder eine komplexe Gemengelage unterschiedlicher Arten von Vertrauen. Auch sind die unterschiedlichen Typen von Vertrauen ähnlich wie Geld dynamischen Inflations- und Deflationsspiralen unterworfen. Dies bedeutet, dass „Vertrauen“ keinen absoluten Wert besitzt, sondern in unterschiedlichen Situationen Unterschiedliches bedeuten kann und unterschiedlich viel wert ist.
Ein erhöhtes Misstrauen gegenüber der moralischen Integrität von politischen Entscheidungsträgern kann in der Tat bedeuten, dass die Menschen immer weniger in die generelle Funktionsfähigkeit eines Staates und seiner Institutionen vertrauen. Dieses Misstrauen steigt, je weniger die Bevölkerung das Gefühl hat, von den Entscheidungen der Politik und den Leistungen ihrer Institutionen zu profitieren. Ähnliches gilt für die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, wenn der Eindruck entsteht, dass einzelne hochrangige Gesellschaftsmitglieder oder ganze Bevölkerungsteile aus dem Steuersystem nach Belieben ausscheren (können) und andere dafür umso mehr belastet werden.
Dieser Verlust von „generalisiertem Vertrauen“ muss jedoch nicht bedeuten, dass ein Staat oder eine Gesellschaft zerfällt. Nur selten passiert, was wir derzeit etwa in der Ukraine erleben oder was in den vergangenen Jahren in Ägypten, in Libyen oder in Tunesien zu beobachten war: dass ein Teil der Bevölkerung auf die Straße geht und kämpft, bis das herrschende Regime tatsächlich abdankt – selbst wenn es das eigene Leben kosten könnte. Viel häufiger wird ein Verlust des Vertrauens in die Verlässlichkeit des politischen Systems kompensiert durch stärkeres Vertrauen in persönliche Kontakte und Netzwerke, in die Verlässlichkeit der eigenen Familienbande und des persönlichen Nahbereichs. Dies kennzeichnet etwa die Situation in sogenannten „schwachen Staaten“, in denen Ämterpatronage, Klientelismus und Alltagskorruption häufig sehr ausgeprägt sind.
Die Funktionsfähigkeit von modernen, demokratisch verfassten Staaten hängt allerdings ganz erheblich von der Verlässlichkeit ihrer Institutionen ab: Sie sind konstitutiv auf die aktive Beteiligung der Bevölkerung und auf ein hohes Maß an generalisiertem Vertrauen in die zentralen Institutionen angewiesen. Umso höher ist das Maß an öffentlicher Aufregung und Skandalisierung, wenn die Grundprinzipien der demokratischen Ordnung und die Funktionsweise der öffentlichen Institutionen verletzt werden. Medienskandale und die öffentliche Bloßstellung von Amtsträgern oder herausragenden Persönlichkeiten müssen demnach nicht unbedingt als Anzeichen für den Verfall der Ordnung angesehen werden, sondern sie sind Rituale, in denen die moralischen Prinzipien einer Gesellschaften immer wieder aufs Neue öffentlich verhandelt und bekräftigt werden.
Entscheidend ist also, wie der öffentliche Skandaldiskurs verläuft und wie das Fehlverhalten von Politikern, Institutionen und herausragenden Persönlichkeiten in der Bevölkerung wahrgenommen wird. Ähnlich wie in den antiken Dramen scheint es in der modernen massenmedialen Öffentlichkeit eine besondere Lust am Sturz und am (Ver-)Fall von vermeintlichen Helden zu geben. Auch dies mag zur Bekräftigung gewisser moralischer Prinzipien beitragen – insbesondere wenn es um die öffentliche Zurschaustellung und Ahndung des Fehlverhaltens von herausragenden Persönlichkeiten geht; etwa um zu zeigen, dass sie den gleichen moralischen und rechtlichen Prinzipien unterliegen wie alle anderen Menschen auch. Problematisch wird es jedoch dann, wenn einzelne Medienvertreter oder einzelne Akteure die mediale Bloßstellung und Skandalisierung einzig und allein zur Durchsetzung von Macht- und Profitinteressen nutzen.
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Dr. Sebastian Büttner
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